Herr Hutzler, wie haben Sie Vertrieb gemacht, als es noch keine CRM-Systeme gab?

Karsten Hutzler: Im Vertrieb angefangen habe ich im Jahr 1988, in der Musikindustrie bei einem Major Label. Damals haben wir unsere Kunden noch mit Karteikarten und Händlerlisten verwaltet. Es gab noch nicht einmal Excel. Die Systeme, die es gab, lagen auf Großrechnern. Mitte der 90er-Jahre habe ich mit einem Programmierer ein eigenes Auftragserfassungssystem entwickelt. Unser Traum war eine Datenbank, in der man alle Kunden labeln und sortieren konnte: Wer bekommt einen Newsletter? Wer ist an diesen oder jenen Produkten interessiert? Das Ganze haben wir dann auf Basis einer Datenbank mit Microsoft Access entwickelt. Bald verkauften wir die Software an ein großes österreichisches Unternehmen, ebenfalls aus der Musikbranche, für 20.000 D-Mark. Wir waren damals nicht die Einzigen, die an CRM-Systemen bastelten. Die Lösungen hatten aber nach wie vor keine Funktionen, wie wir sie heute kennen. Man musste das Meiste noch immer in Büchern und auf Zetteln notieren. CRM war in den frühen 90er-Jahren noch völlig ineffizient. 

Was ist heute besser?

Mit modernen CRM-Systemen habe ich eine zentrale Datenbasis für die Kundenverwaltung. Es gibt keine redundanten Daten mehr, die komplette Historie zu einem Kunden ist verfügbar, Vertriebsaktionen sind transparent einsehbar und damit auswertbar und planbar. Was hat meine letzte Aktion gebracht? Jetzt können Aktionen kalkuliert werden. Früher war das alles Bauchgefühl. 

Welche neuen Probleme sind aus Ihrer Sicht bei CRM entstanden?

Ein großes Problem heute ist redundante Datenhaltung – oft, weil verschiedene Systeme zugekauft wurden. Dann gibt es Schnittstellenproblematiken. Der Anspruch ist ja, dass man Rückschlüsse auf den Markt und auf die eigenen Kunden ziehen und damit auch Erfolge oder Misserfolge von Aktionen erkennen kann. Das funktioniert allerdings nur, wenn man das in einem CRM einheitlich managt. 

Und dann rufen Callcenter mehrmals in einem Monat an, und man muss ihnen immer wieder sagen, dass man nicht interessiert ist…

Nicht unbedingt, manchmal liegt da der Fehler in den gekauften Datensätzen. Es kann aber auch sein, dass die linke Hand nicht weiß, was die rechte Hand im Unternehmen tut. Gerade wenn Unternehmen wachsen und neue Software hinzukaufen, fangen oft die Probleme an. Was macht man dann mit dem ganzen Datensalat? 

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Es werden eben oft Insellösungen geschaffen, die aber nur vorübergehend funktionieren.

Heißt das, wenn Unternehmen schnell wachsen, gibt es oft Fehlinvestitionen in Software?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Es werden eben oft Insellösungen geschaffen, die aber nur vorübergehend funktionieren. Der Vertrieb, das Callcenter oder der Service schreien nach neuen technischen Möglichkeiten, um ihre Arbeit effizienter zu gestalten – und ihr Wunsch wird erfüllt. Aber es wird oft nicht auf den Rest des Unternehmens geschaut, um diese Datenquellen dann auch in das Gesamtgefüge zu integrieren.

Ein Beispiel: Ein Inbound Service Center einer Versicherung hat ein Ticket-System, um Anrufe zu qualifizieren. "Wer hat angerufen? Was war der Grund für den Anruf? Konnten wir helfen?" Und dann dient das Tool auch noch als Kommunikationsmittel für den Second und Third Level Support. Also für Themen, die die Telefonisten im Callcenter nicht sofort selbst bearbeiten können. Das Problem: Die Telefonanlage misst, wie viele Calls reinkommen und wie viele angenommen werden. Wenn man die Telefonanlage jetzt nicht mit dem Ticket-System koppelt, hat man immer mehr Calls als Tickets, weil die Tickets händisch erstellt werden. Heißt, der Mitarbeiter nimmt einen Call an und macht dann ein Ticket auf. Im besagten Fall gingen pro Monat 50-100 Calls in der Dokumentation verloren. Wegen der Nachweispflicht war das ein großes Problem. In diesen Fällen war im Zweifel nicht nachweisbar, ob jemand auch wirklich über einen bestimmten Sachverhalt aufgeklärt wurde, denn dafür braucht es ein Ticket. 

Wie gut setzen Unternehmen CRM heute Ihrer Erfahrung nach um?

Oft sind die eingekauften Systeme viel zu komplex für die Anforderungen. Ich habe lange Zeit für verschiedene Unternehmen Callcenter aufgesetzt. Dort habe ich immer wieder Softwareanbieter vor den Kopf gestoßen und ihnen gesagt: "Leute, das brauche ich alles nicht. Wenn ihr über unsere Anforderungen hinaus noch etwas liefern wollt, dann tut das doch kostenfrei."

Die Frage ist: Was ist für das Tagesgeschäft wirklich notwendig? Für mich ist eine Historie wichtig, dass ich den Kunden unterschiedliche Aktionskennzeichen oder Attribute geben kann. Aber das war es schon. Viele Funktionen sind überflüssig und haben nichts mit den wirklichen Anforderungen der Unternehmen zu tun. Sie werden infolgedessen auch nicht genutzt. Das Unternehmen braucht oft eigentlich einen VW, ihm wird aber ein Airbus angeboten.

Manchmal sind CRM-Systeme aber auch nur digitale Karteikarten, und das ist nicht Sinn und Zweck von modernem CRM. Große Schwächen gibt es außerdem in der Anwendung. Wenn ein System nicht diszipliniert und verbindlich genutzt wird, ist das ganze Projekt "CRM" sinnlos.

Ein anderes Problem in großen Firmen, das wir schon angesprochen haben: Durch Firmenankäufe werden mehrere CRM-Systeme parallel betrieben. Dann sind Daten oft nicht synchron oder müssen sehr aufwendig parallel gepflegt werden. 

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Das Unternehmen braucht oft eigentlich einen VW, ihm wird aber ein Airbus angeboten.

Wo stößt CRM-Software an ihre Grenzen?

Die Software kann Teams die Kreativität nicht abnehmen. Es muss einem also immer klar sein, welche Strategie man verfolgt. 

Wie kann ein Unternehmen die richtige Entscheidung für ein CRM-System treffen?

Viele Software-Systeme sind extrem teuer. Das heißt nicht, dass die umfangreichen Systeme schlecht sind, die Preise sind schon gerechtfertigt – die Frage ist nur, was brauche ich? Durch den Kauf teurer Software läuft außerdem noch lange nichts besser. Oft wird sehr viel Geld verbrannt, weil die internen Prozesse ineffizient sind. Ich sollte als Unternehmen nicht für Features zahlen, die aktuell an meiner Situation nichts verbessern. Gleichzeitig sollte das System modular erweiterbar sein, wenn sich die Anforderungen ändern. 

Ich empfehle Unternehmen, einen Anforderungskatalog zu erstellen und dann auszuschreiben. Dann muss man eben vergleichen, was nicht immer ganz einfach ist. Teilweise sehen Angebote supergünstig aus, aber dann kommen recht hohe Folgekosten auf einen zu. Das muss man alles im Überblick haben.

Manchmal macht es auch Sinn, ein altes CRM-System, mit dem man ohnehin schon im Unternehmen arbeitet, von IT-Spezialisten ausbauen zu lassen. Der Vorteil ist dann, dass die ganze Folgebetreuung inhouse ablaufen kann. Man sollte ohnehin möglichst viel Know-how intern aufbauen, sowohl zur Technik als auch zu den Prozessen. Je komplexer die Systeme sind, desto besser geschultes Personal muss ich auch im Haus haben – sonst mache ich mich komplett von externen Dienstleistern abhängig. In Vertrieb und Kundenbetreuung ein No-Go. 

Herr Hutzler, wir bedanken uns für das spannende Interview und ihre Zeit!