Herr Müller, wie dramatisch ist im April 2022 die Lage in der Bauindustrie?

Die Auswirkungen des Krieges gegen die Ukraine setzt mit voller Wucht auch unserer Branche zu: Mittlerweile ist fast jedes Unternehmen direkt oder indirekt von den Folgen betroffen. Preissteigerungen und Materiallieferengpässe sind da die Hauptprobleme. Unsere Unternehmen berichten unisono, dass Lieferanten nur noch tagesaktuelle oder überhaupt keine Preiszusagen mehr geben. Dies führt am Ende zu einem enormen wirtschaftlichen Risiko und Schwierigkeiten bei der Kalkulation neuer Angebote. Baustopps für eine Vielzahl von Projekten können wir nicht mehr ausschließen. Zudem wirken sich die verschärften EU-Sanktionen auch auf potenzielle Subunternehmer und Lieferanten aus, wenn deren Gesellschafter in Deutschland ansässige russische Staatsangehörige sind. Diese dürfen unsere Unternehmen für öffentliche Aufträge nicht mehr binden. Bestehende Verträge laufen bis Oktober 2022 weiter, aber danach müssen auch sie neu justiert werden. Das kann ebenfalls zu Problemen führen, wenn man die Aufgaben bedenkt, die durch die Branche zu bewältigen sind.

Die Baubranche boomte in den vergangenen Jahren, vor allem Großstädte schoben immer neue Bauprojekte an, um den steigenden Mieten entgegenzuwirken. Jetzt droht der Branche plötzlich Kurzarbeit. Wie passt das zusammen?

Die simple Wahrheit ist: Wenn das Material fehlt, kann nicht gebaut werden.

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Der andere Punkt ist, dass durch die angespannte Lage ein Nachfragerisiko entstanden ist: Preisanstiege und Lieferengpässe schrecken öffentliche und private Investoren immer mehr ab. Aufträge werden storniert. Wir gehen deshalb stark davon aus, dass es zu einem Rückgang beim Wohnungsneubau und in letzter Konsequenz auch bei der Baukonjunktur insgesamt kommen kann.


Warum sind Baumaterialien plötzlich so knapp? Ist das allein oder in erster Linie mit dem Ukrainekrieg zu erklären? Spielt die Coronapandemie nach wie vor eine Rolle?

Weil alles miteinander zusammenhängt. Unsere Lieferketten sind so eng miteinander verflochten – das zeigt sich jetzt auf brutalste Weise. Wir müssen uns künftig aufgrund der sich verändernden Landschaft Gedanken darüber machen, welche Rohstoffstrategie wir sowohl in Deutschland als auch in Europa verfolgen wollen. Die Frage ist: Wo können wir Abhängigkeiten reduzieren, die heute bestehen und uns jetzt in diese Lage gebracht haben? Dazu gehört neben einer stärkeren Baustoffproduktion in Deutschland beziehungsweise im europäischen Binnenmarkt etwa das Thema, wie wir Baustoffkreisläufe anders reaktivieren können, zum Beispiel über Recycling.

Welche Materialien betreffen Lieferschwierigkeiten und Preissteigerungen besonders?

In den letzten Wochen wurden bereits Preissteigerungen etwa bei Stahl oder im Bereich Bitumen deutlich. So kommen beispielsweise 40 Prozent des Stahls in Deutschland aus den Ländern Russland, Belarus und der Ukraine, 30 Prozent der Bitumenproduktion in Deutschland stammen aus Raffinerien, die von dem russischen Mineralölkonzern Rosneft betrieben werden. In den nächsten Wochen werden sich zudem die Auswirkungen des Kohleembargos zeigen. Wir gehen davon aus, dass dies gerade den Bereich Stahl betreffen wird, da die Hochöfen mit russischem Kohle-Koks beheizt werden, gleichzeitig werden fast alle Asphalt-Mischanlagen mit Braunkohlestaub betrieben.

Eine Lösung könnten Preisgleit­klauseln sein. Was regeln diese Klauseln?

Richtig. Dass die Bundesregierung das Risiko steigender Preise erkannt und einen Bundeserlass zum Einsatz von Stoffpreisgleitklauseln veröffentlicht hat – das war ein starkes Signal für die Branche. Jetzt muss diese Regelung auch flächendeckend durch Länder und Kommunen übernommen werden. Auch private Auftraggeber sollten dieses Thema ernst nehmen. Damit hätten die Unternehmen die Möglichkeit, in Verträgen den Bezugspunkt der Materialpreise auf den Zeitpunkt der Angebotsabgabe zu legen, sodass Preisrisiken nicht allein durch uns zu schultern sind. Gerade bei Preissteigerungen von bis zu 80 Prozent – und das innerhalb von Tagen oder sogar Stunden – ist das für viele Unternehmen existenzsichernd.

Nachhaltiges Bauen wird auf vielen Ebenen zusehends verpflichtend. Das treibt die Preise weiter. Ist es eine Option für die Baubranche, die Vorschriften in dieser Hinsicht zu lockern, bis sich wieder Normalität auf dem Markt eingestellt hat?

Die Vorschriften machen nicht wir, sondern die politischen Entscheider. Ich nenne das Beispiel der KfW40-Förderung: Der Neustart und Stopp innerhalb nur weniger Stunden zeigt die hohe Nachfrage und Wichtigkeit der Förderung für den nachhaltigen Wohnungsneubau in Deutschland. Klar ist: Nicht nur wegen stark steigender Materialkosten sind bezahlbare Mieten ohne eine staatliche Förderung nicht zu realisieren. Ich begrüße den Nachhaltigkeitsfokus eindeutig und klar. 

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Um genügend neuen und bezahlbaren Wohnraum in den Ballungszentren zu schaffen, braucht es aber auch gezielte Förderungen, die neben dem Klimaschutz die soziale Frage der Bezahlbarkeit von Wohnraum zum Gegenstand haben. Nur so können die unterschiedlichen und sich teilweise entgegenstehende Ziele der Bundesregierung angegangen und gleichzeitig Planungssicherheit für alle Akteure geschaffen werden.

Abriss und Neubau ist oft die einfachste Lösung, in der Regel aber nicht die nachhaltigste. Warum tut sich die Branche beim Thema Recycling so schwer?

Das eine tun, ohne das andere zu lassen: Abriss und Neubau kann die richtige und nachhaltigste Lösung sein. Aber natürlich müssen wir uns auch Gedanken zum Thema Recycling machen. Und das tun wir. Bei ungefährlichen mineralischen Bauabfällen erreichen wir bereits eine Verwertungsquote von fast 90 Prozent. Die aktuell angespannte Lage wird dem Thema vielleicht den lang erwarteten Durchbruch in allen Bereichen des Bauens geben. Aber: Wir brauchen dafür eine Regulatorik und den Vollzug, damit etwa Recyclingbaustoffe bei Ausschreibungen nicht nur mindestens gleichwertig zu neuen Baustoffen behandelt, sondern überhaupt eingesetzt werden dürfen. Zudem haben wir nach wie vor eine Gesetzeslage, bei der „Abfall” so definiert ist, dass tendenziell alles, was auf der Schippe liegt, als Abfall entsorgt werden muss. Da muss der Gesetzgeber ran, wir als Bauindustrie können nur Hinweise geben. Letztens Endes sind wir Dienstleister: Wir können alles bauen – wenn es bestellt wird.

Tim-Oliver Müller


Tim-Oliver Müller 


Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie