Als die britische Premierministerin Theresa May am 17. Januar dieses Jahres ihre Grundsatzrede zum Austritt aus der Europäischen Union hielt, machte der Schriftzug an ihrem Rednerpult die Position des Königreiches klar: »A Global Britain« stand dort. Es bedeutet, sich stärker am Weltmarkt orientieren zu wollen. Ein »bisschen EU« werde es mit den Briten nicht mehr geben, man wolle den harten Schnitt, führte May in ihrer Rede dann auch aus. Bedeutet das, dass der Verbleib in der europäischen Wirtschaftszone künftig keine Option mehr für die Briten ist? Wie sich die bilateralen Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU in Zukunft ausgestalten, wird man abwarten müssen, doch der Wille, einen neuen eigenen Weg zu gehen, wird deutlich.

Klar ist schon heute, dass vom Brexit viele deutsche Firmen betroffen sind. Sei es, weil sie exportieren, importieren oder weil sie jenseits des Ärmelkanals produzieren. Was bedeutet die Entscheidung für sie und für die Rahmenbedingungen in Europa? Der Chefvolkswirt des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands, Michael Wolgast, sieht die Entwicklung zunächst nicht sehr negativ. »Aus rechtlichen Gründen kann Großbritannien die EU frühestens in zwei Jahren verlassen. Bis dahin werden wir kaum Auswirkungen sehen. Auch danach gelten unabhängig von der Europäischen Union getroffene Vereinbarungen der Welthandelsorganisation.«

Abstriche nur in geringem Ausmaß
 

Pessimistischer äußert sich der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher: »Die wirtschaftlichen Kosten eines harten Brexit sind sicherlich höher als alle anderen Optionen«, sagt er. Beide Seiten – und damit auch Deutschland – würden wirtschaftlich mit Wachstumseinbußen für einen solchen Ausstieg bezahlen. Allerdings rechnet auch Fratzscher nicht mit einem tiefen wirtschaftlichen Einbruch durch den Brexit oder gar einer Rezession. Für Großbritannien könne es zu Wachstumseinbußen von jährlich 0,3 bis 0,4 Prozentpunkten kommen. Auch Deutschland werde Abstriche beim Wachstum machen müssen – allerdings nur in relativ geringem Ausmaß, sagte er. 

Dass es gelingen kann, mit Steuersenkungen Firmen anzuziehen, zeigten Beispiele wie Irland oder Luxemburg, erklärt der DIW-Präsident. Fratzscher empfiehlt, sich nicht auf einen Steuersenkungswettlauf einzulassen. »Einen solchen Wettbewerb kann Deutschland nicht gewinnen«. Ein Beispiel dafür ist die US-Fast-Food-Kette McDonald’s. Sie kündigte bereits an, ihren europäischen Unternehmenssitz von Luxemburg nach Großbritannien zu verlegen. Denn im Kampf gegen die Steuerflucht hatte die EU-Kommission zuletzt auch McDonald’s unter die Lupe genommen, weil das Unternehmen seit 2009 keine Unternehmenssteuern auf Lizenzgebühren gezahlt hatte – dieses Steuerprivileg aber sicher auch weiterhin genießen will. Als bessere Strategie schlägt das DIW vor, die Rahmenbedingungen für Unternehmen zu verbessern, etwa durch Investitionen in die digitale Infrastruktur.

Mit dem Wegfall der Regelungen für den Wirtschaftsverkehr zwischen Deutschland und dem Vereinten Königreich könnte für Unternehmen eine Phase der Unsicherheit oder gar des Stillstands beginnen, befürchtet man bei der Industrie- und Handelskammer Stuttgart. Deren Hauptgeschäftsführer Andreas Richter sagte nach der Grundsatzrede Mays: »Jetzt ist klar, dass der Brexit für viele Unternehmen nicht ohne negative Folgen bleiben wird. Wir befürchten, dass es Jahre dauern könnte, neue bilaterale Abkommen mit der EU auszuhandeln.«

Weiterhin freier Handel
 

Nachdem den Briten klar geworden ist, dass sie nicht im Binnenmarkt bleiben und gleichzeitig die Zuwanderung aus den EU-Mitgliedstaaten kontrollieren können, sind sie praktisch gezwungen, den gemeinsamen Markt zu verlassen. Auch der Zollunion werden die Briten wohl den Rücken kehren. Das ist allerdings wenig überraschend – wenn London in Freihandelsabkommen mit Drittstaaten eigene Zölle erheben will, ist ein Austritt unvermeidlich. Doch auch ohne vollen Binnenmarktzugang und ohne Zollunion gibt es noch Chancen für den Freihandel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. So schlug May ein umfassendes Freihandelsabkommen vor. Dazu gehört üblicherweise die weitgehende Zollfreiheit im Warenhandel.

Doch je nachdem wie weit das Vereinigte Königreich auf die EU zugeht, wäre noch mehr drin – möglicherweise sogar der weitgehende Zugang zum freien Warenverkehr für Industrieprodukte in der EU. Damit könnten in Großbritannien zugelassene britische Industrieprodukte ohne zusätzliche Zulassung in der EU verkauft werden – und umgekehrt. 

Alle anderen Optionen würden richtig teuer werden. Fällt der Freihandel, sind laut Kreditversicherer Euler Hermes Exporte von 38 Milliarden Euro in Gefahr. Zollbeschränkungen würden den Handel drastisch erschweren und Lieferzeiten verlängern. Kommen im Extremfall noch verschiedene Zulassungsverfahren zur Anwendung, wären Unternehmen gezwungen, zwei verschiedene Produktvarianten – für die EU und für Großbritannien – herzustellen.

Am massivsten würde der Brexit die Automobilindustrie und deren Zulieferer treffen, so die Hermes-Studie. Immerhin wurden im vergangenen Jahr 810.000 Pkw auf die Insel exportiert. Mit 100 Standorten sind deutsche Automotive-Konzerne und deren Zulieferer in Großbritannien vertreten.

Auch die deutsche Schlüsselindustrie Maschinenbau blickt mit gemischten Gefühlen auf einen ihrer wichtigsten Exportmärkte. 2015 lieferten die Unternehmen ein Gesamtvolumen von 7,2 Milliarden Euro in das Königreich. Fehlende Planungssicherheit im Hinblick auf mögliche Verteuerungen der Exporte beeinflussen bereits jetzt Investitionen und die Einstellung von Personal. Deutsche Unternehmen, die Niederlassungen in Großbritannien betreiben, könnten dazu gezwungen werden, Arbeitserlaubnisse und Visa für ihre Mitarbeiter zu beantragen. Das ist mit erheblichem bürokratischen Aufwand verbunden.

Die Unternehmensberatung Ebner Stolz hat sich insbesondere mit den rechtlichen Auswirkungen des Brexits beschäftigt. Ihr Anwalt und Steuerberater Sten Günsel hat in einem Fernsehinterview eine Analyse gewagt: »Auch wenn der Brexit zwei Jahre dauert, ab dem Zeitpunkt der Austrittserklärung gibt es kurzfristigen Handlungsbedarf, da das Pfund an Wert verliert. Mittelfristig gibt es für Unternehmen den Druck, ihren Standort zu überprüfen. Wer von Großbritannien aus für den EU-Markt produziert, hat Handlungsbedarf.«

Jetzt schon vorbereiten
 

Was ist nun zu tun? Das EU-Referendum beeinflusst auch Unternehmens-Prozesse sowie die Buchhaltung und bringt Herausforderungen bei Steuern und im Personalmanagement mit sich. Software-Hersteller Abas empfiehlt Mittelständlern, die Kunden, Lieferanten oder Standorte in Großbritannien haben, ihre Unternehmensrichtlinien und ihre Software anpassen. Da der Brexit möglicherweise den Zugang zum EU-Binnenmarkt einschränken wird, ist es ratsam, weitere Vorkehrungsmaßnahmen zu treffen. Unter Berücksichtigung möglicher rechtlicher und marktbedingter Restriktionen muss der aktuelle Produktmix auf seine Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden. Es ist zudem an der Zeit, die eigenen Prozesse ganzheitlich auf den Prüfstand zu stellen, die Abläufe schlanker und die Produktion effizienter zu gestalten. Schon jetzt sollten Geschäftsprozesse an Standorten im In- und Ausland harmonisiert werden.

Nervös werden muss niemand, aber vorbereitet sollte man sein. Nur dem britischen Motto »Abwarten und Tee trinken« zu folgen, ist keine Strategie.

 


»Das Spiel ist noch völlig offen!«

Max Otte, Fondsmanager und Uniprofessor, gibt eine kurze Einschätzung über die Auswirkungen des Brexit. 
 

Erste Auswirkungen des Brexits sind zu beobachten: Das Pfund schwächelt. Was bedeutet der Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union für die deutschen Exporte?

Max Otte: Ich sehe das gelassen. Der Brexit schadet den Engländern am meisten. Mit steigenden Preisen mag ein leichter Rückgang des Geschäftsvolumens verbunden sein. Aber der Mittelstand wird davon lediglich tangiert. Das Pfund war schon vor dem Referendum eine weiche Währung. Wer einen BMW haben möchte, kauft ihn künftig auch, wenn er etwas teurer ist.

Welche Branchen wären von einem Brexit besonders betroffen?

Für den Maschinenbau und die Autoindustrie sehe ich wenig Probleme. Chemische Grundstoffe werden ebenfalls mehr oder weniger unverändert nachgefragt werden. Schon eher betroffen sein können die Branchen Agrar, Nahrungsmittel und Dienstleistungen. Sie sind leichter substituierbar, und Produkte können auf anderen Märkten beschafft werden.

Premierministerin Theresa May hat angekündigt, Unternehmenssteuern zu senken. Wird Großbritannien zur Steueroase?

 Ich sehe das zunächst mal als Drohgebärde, um eine starke Verhandlungsposition zu erreichen. Die Briten haben uns mit ihrer imperialen Erfahrung auch 300 Jahre Diplomatie voraus. Die EU muss natürlich konsequent handeln und ein solches Bestreben unterbinden. Die Inseln Jersey und Guernsey reichen – eine Steueroase England können wir uns nicht leisten.

Gibt es jetzt Handlungsbedarf?

 Unternehmen sollten Strategien ausarbeiten, welche Risiken auf sie zukommen können. Doch generell sind in den meisten Firmen die britischen Exportanteile überschaubar, Veränderungen können verarbeitet werden.

Es rumort in Großbritannien. Kommt der Brexit noch mal auf den Prüfstand?

 Ja, das glaube ich. Der gesamte Finanzsektor hat keinerlei Interesse daran, dass die Briten Europa den Rücken kehren, große Teile des Volkes wollen es auch nicht. Das Spiel ist noch völlig offen. Zumindest könnte der Brexit am Ende in stark abgemilderter Form erfolgen.

Herr Otte, vielen Dank für den kurzen Einblick!
 

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