Herr Hildebrand, wie verändert die Digitalisierung den Einkauf als Teil der Lieferkette?

Knut Hildebrand: Die Lieferkette oder Supply Chain unterliegt in den meisten Branchen einem rasanten Wandel. Mehrstufige Planungssysteme (APO), globaler Einkauf, elektronische Marktplätze und Ausschreibungen (Auktionen) sowie schnellere operative Systeme wie SAP HANA bringen nicht nur Vorteile, sondern auch handfeste Herausforderungen mit sich. Sicherlich ist eine funktionierende elektronische Bestellabwicklung über das E-Procurement eindeutig schneller und kostengünstiger als der manuelle Prozess. Bis dahin ist aber eine Menge Feinarbeit zu leisten, vom Customizing über die Anwenderschulungen bis hin zur technischen, betriebswirtschaftlichen und juristischen Einbindung der Lieferanten. Das gibt es nicht zum Nulltarif, insbesondere, wenn nicht nur Standard-Software wie SAP eingesetzt wird, sondern weltweit unterschiedlichste Systeme, Standards und Spezialfälle zu berücksichtigen sind. Da kann so mancher Business Case sich unter Umständen nur über strategische oder qualitative, also nicht-monetäre Aspekte „rechnen“.

Das heißt, Einkäufer von heute müssen umfassender denken?

Genau. Den Fokus nur auf den Beschaffungsprozess zu richten, ist nicht ausreichend. Neben dem operativen muss auch der strategische Einkauf eingebunden sein. Gute Lieferanten sind nicht automatisch digitale Alleskönner, die nur auf den Startschuss gewartet haben, um die elektronische Bestellung in einen Kundenauftrag zu transformieren, Bestätigungen und Lieferavise auf Knopfdruck zu generieren und von Rechnungen auf das Gutschriftsverfahren umzusteigen. Hier ist der strategische Einkauf gefragt: Die E-Procurement-Kompetenz der Lieferanten wird neben den klassischen Kennzahlen wie Mengen- oder Termintreue zum Thema.

Wie hat sich das Supply Chain Management durch die voranschreitende Digitalisierung vereinfacht?

Ein Beispiel aus dem Maschinenbau kann das veranschaulichen: Vor der Digitalisierung hat der Maschinenhersteller nach der Bedarfsplanung den Nettobedarf beziehungsweise die optimierte Losgröße dem Lieferanten mitgeteilt. Jener hat dann diesen Bedarf durch seine eigene Disposition geschoben und seine Losgröße ermittelt. Damit erzeugte man beste Voraussetzungen für den Bullwhip-Effekt, also das Aufschaukeln der Bedarfe. Diese „doppelte Disposition“ hat letztlich keinen Nutzen erzeugt, im Gegenteil.

Im Rahmen der digitalen Anbindung des Lieferanten wurde ihm die Hoheit über die Bestände „seiner“ Materialien gegeben mit der Maßgabe, bestimmte Parameter (Mindestbestand und so weiter) einzuhalten. Damit musste nur einmal disponiert werden, und zwar zu dem Zeitpunkt und mit der Menge, die insgesamt passte. Das spart Zeit, Arbeit und bringt dem Maschinenhersteller und dem Lieferanten eine echte Win-Win-Situation.

Voraussetzung für diese intensivere Kooperation ist nicht nur die technische Anbindung, sondern Vertrauen in die Verantwortung des Lieferanten. Ferner sind sehr gute gemeinsame Stammdaten und korrekt gebuchte Belege (Bestände, Bedarfe und Bedarfsdecker) unabdingbar. Datenqualität wird so zum Erfolgsfaktor.

Sie sagen, dass die organisatorische Gestaltung des eigenen Unternehmens und dessen prozessorientierte Ausrichtung auf die Supply Chain eine Voraussetzung für die erfolgreiche Implementierung der Software sind, in Einführungsprojekten jedoch oft vernachlässigt werden. Heißt das, die Teamarbeit ist mindestens so wichtig wie die Software?

Kurz gesagt: Das Team ist der Player. Die Software ist letztlich das Vehikel, das von den Teams aller Beteiligten gefahren wird. Das bedeutet, dass die Organisation entlang der Supply Chain passen muss. Die organisatorische Zuordnung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung wird in vielen Fällen zu überdenken beziehungsweise neu zu definieren sein. Hierarchische Strukturen wie beispielsweise User, Key-User, Business Expert usw. bilden dies ab. Damit schafft man horizontale Teams, entlang der Prozesse und übergreifend, und vertikale Teams, die in die übergeordneten Managementebenen hineinreichen.

Also kann man durch horizontale Teams diesen Prozess unterstützen. Wie noch?

Weitere Unterstützung bringt eine offene Kommunikation, die die Betroffenen zu Beteiligten macht und sie da abholt, wo sie heute stehen. Und natürlich ist die Weiterbildung nicht zu vergessen: Schulungsmaßnahmen, die das erforderliche Know-how bilden und Verständnis fördern, sind unabdingbar. Gemeinsam mit mehreren Fachkollegen führe ich dies seit vielen Jahren bei einem großen deutschen Industrieunternehmen durch, mit einigem Erfolg, wie die stetig steigende Nachfrage und das positive Feedback zeigen.

Ist Ihnen während Ihrer Karriere ein Beispiel im Kopf geblieben, bei dem die Digitalisierung besonders tiefgreifende Veränderungen nach sich zog?

Da fällt mir spontan die Umstellung des Einkaufs inklusive E-Procurement auf SAP bei einem Versicherungsunternehmen ein. Die Mitarbeiter waren noch sehr in ihrer „alten Welt“ verhaftet und kamen mit der neuen Arbeitsweise nicht zurecht. Plötzlich war eine BANF oder Bestellung zu kontieren, Kostenstellen, -arten oder Projekte waren einzugeben und es musste Verantwortung übernommen werden. Die extreme Arbeitsteilung von vorher passte nicht mehr, jetzt war der Blick über den „Tellerrand“ nötig.

 

Herr Hildebrand, herzlichen Dank für Ihre Zeit und das Interview.