Die Klappe geht hoch, eine Metallklemme fliegt heraus und landet im Kasten für Ausschuss. Dort liegt sie ganz allein, denn seitdem die Stanz-Biege-Maschine des Elektronikproduzenten Weidmüller mit Auge und Hirn produziert, geht die Ausschussquote gegen null. Das Gehirn ist ein Computerprogramm, das Auge eine Spezialkamera, die jedes Teil vermisst. Erfasst die Kamera schwankende Materialstärke, stimmt der Rechner die Kraft der Maschinenwerkzeuge in Sekundenbruchteilen auf die jeweiligen Werte ab. Das garantiert konstante Qualität, spart Material, Energie und Zeit. Neue Aufträge sind ruck, zuck eingerichtet – ein Mitarbeiter stellt sie mit zwei, drei Fingerstrichen auf einem Monitor ein. Das fixe Umrüsten ermöglicht ein Produzieren nach Kundenwunsch und in kleinen Stückzahlen, bei niedrigen Fertigungskosten und kurzen Lieferzeiten.

1,5 Millionen Euro hat Weidmüller, Hersteller kleiner Elektronikteile, in dieses Projekt investiert. Automatisierte Flexibilität sei die einzige Möglichkeit, die 2000 Arbeitsplätze am Stammwerk Detmold dauerhaft zu erhalten, lässt Michael Höing durchblicken. Wenn der Leiter der Division Elektronik in die Zukunft blickt, sieht er „Anlagen, die sich letztlich selbst steuern, selbst optimieren und damit ganz neue Produktionsmöglichkeiten erlauben“.

Quotation mark

Virtuelle und reale Welt werden bald verschmelzen.

Das ist mehr als eine Vision: Unter dem Schlagwort Industrie 4.0 treiben Unternehmer, Forscher und Politiker einen umfassenden Wandel voran. Von Design und Entwicklung über die Produktion bis zu Vertrieb und Kundendienst sollen sich die Prozesse der industriellen Fertigung künftig über das Internet verbinden. Maschinen und Bauteile organisieren, überwachen und optimieren sich selbst. Über integrierte Minirechner senden und empfangen sie aktuelle Informationen in Echtzeit. Die Produktion wird zum digitalisierten Marktplatz, auf dem Fertigungsanlagen ihre Dienste anbieten und Werkstücke ihren Weg durch den Herstellungsprozess von selbst wählen.

Die vernetzten Bauteile und Maschinen passen sich eigenständig anderen Auftragsvarianten an, neue Geräte oder ganze Produktionseinheiten werden vom Leitsystem automatisch erkannt und in die Fertigungsabläufe integriert. Änderungswünsche sind selbst nach Produktionsbeginn möglich, sogar Stornierungen bedeuten kein Problem mehr. Fällt eine Maschine aus, finden die entstehenden Produkte über das Netzwerk eine andere Anlage, die sie bearbeitet. Selbst Wartung, Reparaturen und Korrekturen initiieren die Maschinen ohne menschliche Hilfe. Sie fordern neue Bauteile an, überwachen den eigenen Verschleiß und erkennen Qualitätsmängel der Produkte, die sonst erst in der Endabnahme auffallen. Detlef Zühlke, Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, hat heute schon eine Ahnung davon, wie weit diese Entwicklung noch gehen könnte: „Anlagen, Geräte und entstehende Produkte werden zu cyber-physischen Systemen, in denen virtuelle und reale Welt verschmelzen.“

Quotation mark

Die Wirtschaft steht an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution.

Die Fabrik wird intelligent – für den Standort Deutschland bedeutet das einen Paradigmenwechsel. „Die Wirtschaft steht an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution“, proklamiert das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Zuerst revolutionierte die Dampfmaschine die Arbeitswelt, dann brachte das Fließband die Massenproduktion, zuletzt ermöglichten Elektronik und Computertechnik das Automatisieren der Fertigung. Nun beginnt das weltweite Datennetz die Industrie grundlegend umzukrempeln. 

Für die Industrie 4.0 müssen Unternehmen sich neu erfinden, fordert Markus Glück, Professor für Maschinenbau und Verfahrenstechnik an der Hochschule Augsburg. Nicht von heute auf morgen, „sondern in vielen Schritten“. Das Potenzial jedenfalls ist gewaltig: Allein im Maschinen- und Anlagenbau wird bis 2025 ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 23 Milliarden Euro erwartet. Und ein Produktivitätsplus von bis zu 30 Prozent. Folgerichtig haben Industrie- und Wirtschaftsverbände das Verschmelzen von Informations- und Fertigungstechnik zum zentralen Zukunftsthema erklärt; die Bundesregierung hilft mit Fördergeldern. Konzerne wie Bosch, Siemens und Daimler, aber auch größere Mittelständler wie Antriebsspezialist Wittenstein, Automatisierungsexperte Festo oder eben Elektronikproduzent Weidmüller arbeiten intensiv an Industrie-4.0-Projekten.

Sie sind derzeit noch Ausnahmen. Die meisten Mittelständler unterschätzen die Bedeutung der Internettechnologien für den Produktionsalltag, besagt eine aktuelle Studie der Personalberatung InterSearch Executive Consultants. Zu selten richten die Unternehmen ihre Strukturen auf die neuen Abläufe und Notwendigkeiten aus, ergab eine Umfrage unter 400 Top-Managern aus dem Mittelstand zur „Digitalen Transformation“. Nicht einmal in jeder vierten Firma können Abteilungen wie Produktion oder Marketing überhaupt eng vernetzt mit der IT zusammenarbeiten – im produzierenden Gewerbe liegt der Wert mit 19 Prozent am niedrigsten.
 


„Gerade die Industrie, in der es auf Innovationen und Schnelligkeit ankommt, hat beim Thema digitale Transformation den größten Handlungsbedarf“, sagt Julia Böge von InterSearch Executive Consultants. „Wird hier nicht umgehend ein kultureller Wandel eingeleitet, muss das Projekt Industrie 4.0 im deutschen Mittelstand scheitern.“

Das ist deutlich, gleichwohl diplomatisch formuliert. Mostafa Akbari vom Aachener Start-up bitstars trifft ständig auf Ingenieure und Techniker, die „hinter dem Mond“ leben. Deren „Unkenntnis des Web 2.0 erschwert die Einführung von Industrie 4.0 ungemein“, klagt der Gründer. Auf Ebene der Manager sei es nicht besser, sagt Dwight Cribb von cribb, einer Personalberatung für Digitalexperten: „Unternehmen verschlafen es noch, Manager zu gewinnen, die dafür sorgen, dass sich das gesamte Unternehmen in Richtung Digitalisierung entwickelt.“ Es fehle an Mut und Weitsicht, die Herausforderungen der Digitalisierung und den damit verbundenen Wandel gezielt anzugehen.

Denn der Wandel kommt und verändert die Erfolgskriterien, gerade für kleine Hersteller. Bei einem Zulieferer etwa zählen künftig nicht allein Qualität und Liefertreue, sondern auch seine Integrationsfähigkeit in die digital gesteuerte Produktionskette, sein Vernetzungspotenzial mit Hersteller und Endkunde. Gerade kleine Mittelständler sollten die Evolution der intelligenten Fertigung daher nicht verschlafen, warnt Industrieforscher Glück. „Sie müssen sich schon heute auf den Wandel einstellen und vorbereiten. Sonst werden sie eines Tages von den Wettbewerbern abgehängt.“

Quotation mark

Der Mittelstand unterschätzt die digitale Transformation.

Die preschen nämlich vor. China etwa investiert massiv in das Verzahnen von Maschinenbau- und IT-Kompetenz; die US-Regierung spendiert rund zwei Milliarden Dollar für ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm zu „Advanced Manufacturing“. Deutschland hat vor allem die intelligente Fabrik von Siemens zu bieten. Hier können Mittelständler sich anschauen, in welche Prozesse sie künftig ein- oder wo sie zumindest angebunden werden. Im oberpfälzischen Amberg stellt der Konzern programmierbare Steuerungen her, die Autowaschstraßen und Wasserkraftwerke, Abfüllanlagen und Skilifte lenken. Genauer gesagt: Die Produkte stellen sich selbst her.

Basis ist ein Barcode, den jedes Bauteil bis hin zur kleinsten Schraube trägt, eine Art integriertes Gedächtnis mit hinterlegten Auftrags- und Produktionsdaten. Mehr als tausend Scanner erfassen in Echtzeit alle Fertigungsschritte, anhand der gesammelten Daten definiert eine Software sämtliche Produktionsprozesse. Werkstücke kommunizieren miteinander und mit den Maschinen, die sie bearbeiten. Anlagen stimmen untereinander die Produktionsabläufe ab, kontrollieren und korrigieren sich eigenständig. Die Fehlerquote liegt fast bei null.

Mag die Fabrik von morgen autonom agieren – der Mensch wird nicht überflüssig; allerdings ändert sich seine Rolle. Er wird vom Bediener zum Bedienten, die Maschinen liefern ihm die für seine Aufgaben nötigen Informationen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. „Der Mitarbeiter von morgen ist Planer und Entscheidungsträger in einem komplexen Umfeld“, sagt Dieter Spath, früherer Leiter des Fraunhofer-Instituts IAO. „Damit steigen die Anforderungen an seine Kompetenzen.“ Wenn die Maschinen schlauer werden, müssen eben auch die Menschen dazulernen.

Drei Fragen an...
 

Dr. Christian Schröder vom Institut für Mittelstandsforschung

„Digitalisierung – Industrie 4.0“: Die deutsche Wirtschaft steht vor einem einschneidenden Umbruch. Ist der deutsche Mittelstand offen und mutig genug, sich dieser Herausforderung zu stellen?

Das Bewusstsein für die Bedeutung der Digitalisierung ist grundsätzlich hoch – dies hat im vergangenen Jahr wieder eine Befragung von Entscheidungsträgern im Großraum Düsseldorf gezeigt: Durchgängig durch alle Unternehmensgrößen maßen zwei von drei Führungskräften der Digitalisierung eine hohe oder sehr hohe Bedeutung für ihr jeweiliges Unternehmen bei.

Warum reagiert der Mittelstand dann noch so verhalten auf diesen Umbruch?

Mittelständische Unternehmen sind beim Einsatz neuer Technologien in ihrem Fertigungsprozess eher konservativ, weil sie darauf angewiesen sind, dass ihre Produktionsprozesse sehr stabil und sicher ablaufen. Daher bevorzugen sie für den Produktionsprozess IT-Lösungen mit einem hohen Reifegrad – das Konzept Industrie 4.0 ist jedoch noch relativ neu, die Thematik komplex und die jeweiligen technischen Anwendungsmöglichkeiten sind noch unübersichtlich.

Welche wirtschaftlichen und politischen rahmenbedingungen wünscht sich der Mittelstand, um diese Herausforderung besser bestehen zu können?

Es ist noch unklar, welche Standards bzw. Normen sich zur Organisation von Industrie 4.0 durchsetzen werden und wie die Datensicherheit gewährleistet werden kann. Diese Parameter sind für mittelständische Unternehmen jedoch entscheidend, um eine Investition in 4.0-Technologien abschätzen zu können. Eine weitere Voraussetzung für Industrie 4.0 ist die flächendeckende Breitbandversorgung.
 

Alle aktuellen Termine der Mittelstandstage finden Sie hier