Warum hat Leica vor Ihrer Übernahme das digitale Zeitalter völlig verschlafen?

Kaufmann: Das ist ein Zeitungszitat, das leider seit Jahren sein Unwesen treibt. Leica richtete die digitale Abteilung bereits 1994 ein und zeigte zwei Jahre später die erste Digitalkamera. 2004 machte Leica dann einen Kommunikationsfehler. Auf der Photokina zeigten sie nicht ihr gesamtes Portfolio, sondern fast nur analoge Kameras. Jeder Mitarbeiter trug dazu einen Button mit der Aufschrift: ‚Ich bin ein www.filmdinosaurier.de’. Und gerade in diesem Jahr hatte die digitale Fotografie ihren großen Durchbruch. Und Leica, aus dem kleinen Dorf in der Mitte Deutschlands, zeigte nur analoge  Kameras. Seit dieser Zeit hält sich hartnäckig die Mär von der verschlafenen Digitalisierung.

Was hat bei Leica die digitale Wende gebracht?

2006 die digitale M 8 – und dann haben wir 2009 an einem einzigen Tag drei verschiedene digitale Kamerasysteme vorgestellt. Das S-System, die X 1 und die Vollformatkamera M 9. Also drei komplett neue Systeme auf einen Schlag. Das hat die Wende eingeläutet. Und seit Sommer 2009 schreiben wir auch schwarze Zahlen. Drei Jahre später brachten wir dann die M Monochrom auf den Markt. Die erste und einzige digitale Kamera, die nur schwarz-weiß fotografiert. Das war noch einmal ein Durchbruch.

Was würden Sie anderen Managern raten, die sich in einem disruptiven Markt bewegen?

Die beste Voraussetzung für einen Turnaround wäre, wenn bereits eine Marke vorhanden ist. Wie das bei uns der Fall war. Wir hatten eine bekannte Marke, wenn auch ein wenig angestaubt. Aber unsere DNA stimmte. Grundig zum Beispiel ist deshalb kaputtgegangen, weil es keine technische Relevanz mehr hatte. Das ist heute eine Handelsmarke für einen Fernsehhändler in der Türkei. Ein Manager muss sich fragen, was ist die Grund-DNA seiner Firma und welche Elemente können in einem disruptiven Markt eine große Rolle spielen. Ohne funktionierende DNA ist eine Firma meiner Meinung nach nicht zu retten.

Das neue Handy von Huawei ist mit Leica-Objektiven ausgerüstet. Was ist das Ziel dieser Kooperation?

Eine Einstiegskamera, die früher von Agfa oder Kodak kam, ist heute das Smartphone. Für einen Kamerahersteller ist es deshalb wichtig, auch auf diesem Markt seine Stärken auszuspielen. Fotografie ist weltweit Hobby Nummer eins. Wir wollen mit unseren Erkenntnissen auf dem Markt mitmischen. Ich glaube, das ist uns mit Huawei schon gelungen. Das Handy besitzt zwei Objektive. Mit dem einen fotografiert man in Farbe, mit dem anderen in Monochrom, also Schwarz-weiß. Wir haben da unser ganzes technisches Know-how reingesteckt.

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„Richtig interessant wird es erst, wenn man vier oder sechs Kamerasysteme auf dem Handy hat. Zusammen ergeben sie die Qualität eines großen, leistungsstarken Objektivs.”

Dr. Andreas Kaufmann, Leica

Sie sehen das Handy also nicht als Konkurrenz?

Überhaupt nicht. Es ist eine Ergänzung. Wir arbeiten intensiv mit Huawei zusammen. Unsere zwei Objektive im Smartphone der Chinesen sind erst der Anfang. Wir haben mit der Handyfotografie noch große Pläne.

Die da wären?

Richtig interessant wird es erst, wenn man vier oder sechs Kamerasysteme auf dem Handy hat. Das sogenannte Array-System. Ein Objektiv ist für die Tiefenschärfe zuständig, das andere fotografiert nur Rot und so weiter. Zusammen ergeben sie die Qualität eines großen, leistungsstarken Objektivs.  Problem ist, dass noch der Prozessor fehlt, der die einzelnen Systeme zusammenrechnet – und die dazu notwendigen Algorythmen. Das kann bisher noch keiner. Unser Ziel könnte es beispielsweise sein, das Array-System im Smartphone unterzubringen. Daran arbeiten wir.

Sehen Sie dennoch eine Renaissance bei der Kompaktkamera?

Wer ein hochwertigeres Bild haben will, greift zur Kamera. Das Handy hat die sogenannten Schnappschuss-Kameras plattgemacht. 2010 gab es eine Prognose für den Gesamtmarkt 2015 von 140 Millionen Kameras. Verkauft wurden nur 46 Millionen. Der ganze Kompaktkamera-Markt ist großenteils zusammengebrochen. Warum? Schnappschüsse werden mit dem Handy gemacht. Lediglich Urlaubs- und Familienfotos, also Erinnerungen von bleibendem Wert, schießt man mit der Kamera. Ein Trend bei den sogenannten Digital Natives ist die Sofortbild-Fotografie, die vor allen Dingen von Fuji bedient wird. Fuji verkaufte im letzten Jahr 5,5 Millionen Instax-Kameras und nur 1,5 Millionen Digitalkameras. Für junge Menschen ist die Tatsache ‚Ich schieße und da kommt ein Bild raus‘ eine wirkliche Faszination. Wir studieren das seit einiger Zeit.

Welche Rolle spielen Social-Media- Kanäle wie Instagram für die Vermarktung Ihrer Produkte?

Wir bedienen das natürlich, aber viel wichtiger für die Vermarktung ist unser Retailkonzept. Instagram und Co. verwenden wir, um Botschaften rauszubringen. Wir hatten zum Beispiel vor Kurzem ein Event in unserer Leica-Galerie in Tokio mit den Instagram-Gründern. Kevin Systrom war da und bekam eine Leica-Kamera überreicht. Wir haben für den Aufsichtsrat einen Beraterkreis, dazu gehört zum Beispiel der Direktor für strategische Entwicklung von Facebook, der gleichzeitig für die strategische Entwicklung bei Instagram zuständig ist. Wir beobachten und nutzen das, aber unsere Kunden erreichen wir besser über unsere Leica-Stores.

 


Ihre Firma ACM stieg 2013 bei der Fotoplattform „I shot it“ ein. Was ist daraus geworden?

Das war nicht die Firma, sondern ich persönlich. Mir gehören 25 Prozent. Die Plattform ist keine Ergänzungsstrategie, es ist eher eine Wette darauf, dass sie einmal eine große Rolle spielen kann. Meine 25 Prozent sind eine Anlage, wenn Sie so wollen. Es gibt Interessenten, mal schauen was daraus wird.

Leica hat keinen Online-Shop. Verschließt sich Ihre Firma dem E-Commerce-Geschäft?

Nein, überhaupt nicht. Es macht zurzeit nur noch keinen Sinn. Es gibt zwar Angebote, das machen aber einzelne Händler. Gut möglich, dass wir vielleicht den ersten Online-Store für China machen. Das ist ein geschlossener Markt. Da könnte das funktionieren.

Was auffällt, Sie machen sonst kaum Werbung für Leica.

Stimmt. Wir machen weltweit Events in unseren Leica-Galerien. Davon haben wir zwölf Stück, die 13. Galerie wird demnächst in Istanbul eröffnet und später noch eine in China. Wir machen Marketing, indem wir die Fotografie zu den Leuten sprechen lassen.

Sie expandieren fleißig.

Wir haben weltweit 300 Verkaufsstellen. Davon sind rund 70 Stores und 230 sogenannte Boutiquen in großen Passagen wie der Galeries Lafayette in Paris. Und wir bauen die Stores sukzessive aus. Wir haben gerade unseren Company-Store in Shanghai eröffnet, im September ist Boston an der Reihe. Später folgt Porto. 2016 sind insgesamt zehn Stück geplant. Wir wollen aus Leica ein Weltunternehmen formen und sind auf einem guten Weg.

Ein Meilenstein dazu ist sicher auch der Leitz-Park in Wetzlar.

Auf alle Fälle. Hier machen wir Leica für jedermann erlebbar. Der komplette Firmensitz mit Manufaktur und Museum ist hier untergebracht. Für die Besucher gibt es das Café Leitz, meine Interpretation eines modernen Wiener Kaffeehauses. Jetzt kommen noch ein Hotel dazu, das Archiv, eine neue Produktionsstätte und weitere Büros.

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„Mein Traum ist es, eine allgemeine Beschreibungssprache für ein Foto zu entwickeln. Das würde bedeuten: Jedes Foto weiß, was es ist. Digitale Kameras sind eigentlich dumme Geräte. Eigentlich müsste eine Kamera wissen, was sie sieht.”

Dr. Andreas Kaufmann, Leica

Ist eine Leica-Kamera bei den Preisen ein Luxusgut?

Der Begriff Luxus hat in Deutschland etwas mit Überfluss zu tun. Wir bezeichnen uns jedoch nicht als das Überflüssige, sondern als das Wesentliche. Unsere Preise mögen luxuriös erscheinen, aber dafür gibt es mehrere Gründe: Wie wir unsere Objektive produzieren, dass wir Kleinserien haben und dass wir Materialien anders einsetzen. Natürlich ist es für viele ein Luxusartikel, wenn sie auf den Preis schauen. Ich bin jedoch der Meinung, wir sind immer noch zu billig.

Stimmt es, dass Sie Ihre eigenen Kameras im Store kaufen, statt sie in Wetzlar aus dem Regal zu holen?

Manchmal bekomme ich welche zum Ausprobieren. Aber im Ernst: Rund 60 Prozent meiner 35 Kameras habe ich selbst gekauft. Das ist oft höchst spannend. Nicht jeder kennt mich, Gott sei Dank. Bei diesen Gelegenheiten teste ich gleich den Service. In den USA mache ich das öfters, und in Europa natürlich auch. Die schlimmsten Erlebnisse habe ich immer, wenn ich zu Multi Brands in New York komme. B&H ist der größte Kamerahändler der Welt. Wann immer ich dort eine Leica kaufen will, rät mir der Verkäufer ab. ‚Zu teuer’, sagt er. ‚Warum kaufen sie keine Canon, die sind günstiger.’ Das zeigt mir, dass wir bei Multi Brands wahrscheinlich nicht mehr richtig aufgehoben sind.

Gibt es ein digitales Lieblingsprojekt, über das Sie nachdenken?

Ja, das ist auch nahe an der Kamera dran. Mein Traum ist es, eine allgemeine Beschreibungssprache für ein Foto zu entwickeln. Das würde bedeuten: Jedes Foto weiß, was es ist. Digitale Kameras sind eigentlich dumme Geräte. Eigentlich müsste eine Kamera wissen, was sie sieht. Das hätte mehrere Vorteile. Einmal könnte man die Speicherung relativ vereinfachen. Man schreibt in die Bilddatei ‚Hotel Atlantic‘, das Datum hast du sowieso, und dann steht da noch ‚Gerhard Buzzi und Andreas Kaufmann.‘ Ich werde dieses Foto die nächsten 200 Jahre immer finden können. Zweitens: Egal, welche Software es künftig auch gibt, es kann immer gelesen werden.

Also keine Ambitionen, einmal gänzlich etwas anderes zu machen?

Es gibt nichts Lustigeres als diesen Job. Sollte ich etwas finden, was mir noch mehr Spaß bereitet, vielleicht. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass es noch zehn oder zwanzig Jahre so lustig bleiben wird.

Herr Kaufmann, wir danken für das Gespräch. 

 

Dieser Beitrag stammt aus dem Magazin Clutch, dem Gesellschaftsmagazin für die digitale Welt, und wurde im September 2016 im Printheft (Ausgabe 1) veröffentlicht. Das Interview führte Gerhard Buzzi.