Das Ziel besteht darin, eine Faser zu produzieren, die allen bisherigen Fasern, die zu Textilien verwoben werden können, deutlich überlegen ist. Gemessen an seinem Eigengewicht weist ein Spinnfaden, trotz deutlich geringerer Dichte, im virtuellen Direktvergleich mit einem Stahlfaden gleichen Durchmessers eine vielfach größere Reißfestigkeit auf. 

Die Zukunft der textilen Werkstoffe: Bionischen Zielen näherkommen
 

In Übereinstimmung mit der Belastbarkeit von Edelstahl, aber im deutlichen Gegensatz zu den Eigenschaften anderer künstlicher Fasern, die bereits erfolgreich zu textilen Werkstoffen verwoben werden, wird der Spinnfaden aber noch wegen einer sehr spezifischen Besonderheit gerühmt. Er verfügt bereits über ein hohes Maß an Isotropie, also richtungsunabhängiger Stabilität – trotz Elastizität und Verformbarkeit. Anders als jede andere bekannte natürliche oder künstliche Faser ist er nicht nur stabil in Faserrichtung, sondern weist trotz niedriger „Schersteifigkeit“ eine erstaunliche Druckfestigkeit auf. Die Scherfestigkeit eines Materials bedeutet buchstäblich das, was der Wortlaut schon verspricht: Einer schersteifen Faser ist seitlich schwer beizukommen. Ein Gedankenspiel: Ein Bart- oder Körperhaar aus Spinnfaden wäre sehr schwer zu rasieren. Es würde sich eher verbiegen und dann knicken, bevor es einen Schnitt zuließe. An einen natürlichen Spinnfaden könnte man zusätzlich auch noch etliche Kilogramm Blei hängen, bevor der dünne Faden endgültig reißt. In dieser Dimension aus Schnitt- und Reißfestigkeit bewegt sich die moderne Werkstoffkunde. Dabei eine hohe Leichtigkeit des Materials zu erreichen, ist ein weiteres Ziel von Forschung und Industrie. 

Überwindung von Paradoxien – in der Werkstoff-Forschung fast schon Alltag
 

Der Spinnfaden gilt als kleines paradoxes Wunder der Natur. Denn was natürliche Garne und künstliche Filamente frühestens dann bieten, wenn sie bereits zu Geweben miteinander verfügt wurden, trägt der einzelne Spinnfaden bereits von Natur aus in sich: natürliche Härte bei gleichzeitiger Biegsamkeit und Elastizität. Verantwortlich für diese Besonderheit ist eine einzigartige molekulare Struktur, die in dieser Form keine andere bekannte Faser, geschweige denn ein bisher bekannter oder künstlicher Werkstoff aufweisen kann. Die natürliche Spinndrüse produziert eine Mischung aus spiralförmig geformten und gleichzeitig gefalteten molekularen Ketten, die bei geringer molekularer Dichte eben trotzdem ein hohes Maß an Stabilität in alle Richtungen gewähren. Diese Kombination aus dem „Besten aller drei Welten“, also aus geringer Dichte, Verformbarkeit und maximaler Stabilität, ist bisher selbst mit den derzeitigen Innovationsführern im Bereich der textilen Fasern noch nicht erreicht worden. 

Von der Faser zum Faden und strapazierfähigen Gewebe
 

Jede professionelle Auffassung darüber, ab wann statt von einem „Werkstoff“ überdies von einem „textilen Werkstoff“ gesprochen werden kann, basiert auf der international einheitlichen DIN Norm 60000. Mit dieser Norm werden Filamente belegt, also Fasern, die lang genug sind, um industriell zu flächigen Stoffen weiterverwoben zu werden. In der industriellen Anwendung ist ein Quotient unter 1.000 als Mindestverhältnis von Länge und Durchmesser der Faser indiskutabel. Diese Einschätzung entspricht auch der intuitiven Auffassung darüber, ab wann eine Faser zur wirtschaftlichen Produktion eines flächigen, biegsamen – und auch anschmiegsamen – Gewebes taugt. Aramide und Carbonfasern erfüllen die Norm als wirtschaftlich webfähige Fäden. Allerdings erfordert bereits das Spinnen von Monofilamenten aus Carbon, also einfädigen Carbonfasern zu Multifilamenten, zu einigermaßen bruchsicheren „Garnen“, ein enormes Höchstmaß an Präzision im Nanobereich. 

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Fertigungstiefe der Carbonindustrie
 

Carbonfasern erreichen ihre hohe Zugfestigkeit und Leichtigkeit auf Kosten der Druckfestigkeit – und weisen eine so spröde Scherzone, also Verletzlichkeit im Querschnitt, auf, dass sie sich nur mit sehr aufwendigen und bisher auch recht kostspieligen Verfahren zu stabilen „Garnen“ verspinnen lassen.

Carbon-Monofilamente zu einem weiterverwertbaren Carbon-Multifilament strammzuziehen, erfordert ein Höchstmaß an Know-how im Umgang mit der Brüchigkeit der Fasern. Die Herstellung sowohl der Carbonfasern als auch der flächigen textilen Werkstoffe als Zwischenprodukt liegt deshalb derzeit noch in ein und derselben Hand der spezialisierten Hersteller für Carbonwerkstoffe. 

Textile Werkstoffe: Vorerst kein Fokus auf die Textilindustrie – aber demnächst wieder!
 

Als Rohstoff für textile Werkstoffe haben die neuesten Generationen synthetischer Fasern die Anwendung in der klassischen Textilindustrie übersprungen. Auch die im Vergleich zu Carbonfasern weniger spröden Aramidfasern konnten sich über die Anwendung als kugelsichere Westen hinaus nur versuchsweise als Webgarn auch für schützende Funktionswäsche und -kleidung qualifizieren. Die Anwender, die sich mit Kleidung aus Aramidfasern gegen lebensbedrohende Situationen schützen können, blieben vorerst auch relativ unbeweglich. Man befindet sich bei textilen Werkstoffen für die Bekleidungsindustrie mit Spezialisierung auf schützende Funktionskleidung – so darf man zusammenfassend sagen – noch in einem Kompromiss zwischen Ritterrüstung und Tragekomfort. Allerdings schlägt die Trendnadel der Werkstoffbranche bereits deutlich Richtung Tragekomfort aus.

Bis zur Erfüllung der perfekten Synthese aus Undurchdringbarkeit, Reißfestigkeit, Schnittfestigkeit, Zugfestigkeit, Unzerbrechlichkeit, Leichtigkeit, thermischer Widerstandfähigkeit, Korrosionsbeständigkeit und Schmiegsamkeit ist es noch ein weiter Weg. Aber die Überwindung der ersten Hürden hat bereits erstaunliche Fortschritte im Leichtbau von konstruktiven Verbundstoffen hervorgerufen. Carbon kennt keine Korrosion, ist leicht und für alle vorher kalkulierbaren Strapazen gewappnet – und dabei gleichzeitig unerreicht stabil, hart und ermüdungsfrei. 

Der Fortschritt spinnt feinste und überaus harte Seide für die Zukunft
 

Es wird noch eine Weile dauern, bis man in der Lage ist, die Chemie der natürlichen Proteine zu entziffern, kraft derer selbst gewöhnliche Spinnen am laufenden Band bionische Kostbarkeiten produzieren. Allerdings stehen nach der Entschlüsselung der letzten Geheimnisse bereits alle etablierten Verfahrenbereit um die letzten Geheimnisse ohne weitere Umwege direkt in eine gewinnbringende industrielle Nutzung zu überführen. Bewegungsfreudigere textile Werkstoffe der nächsten Generation werden sich über die derzeit noch „hüftsteife“ Carbontechnologie erheben. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt Carbon allerdings das technologische Maß aller Dinge, wenn es um den bestmöglichen Kompromiss zwischen Belastbarkeit, Leichtigkeit und Formbarkeit geht.