Herr Scheuermann, in einigen Branchen ist der Fachkräftemangel so weit fortgeschritten, dass sich Unternehmen mittlerweile bei Azubis bewerben müssen, um an Personal zu kommen. Wie ist die Situation im Einkauf?

Das wird in Zukunft wohl fast überall so ablaufen. Es kommt der Punkt, an dem aus dem Fachkräftemangel ein allgemeiner Arbeitskräftemangel wird. Bis 2030 verlieren wir aus demografischen Gründen zwischen zwei und fünf Millionen Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt. Da ist dann nicht nur der externe Konkurrenzkampf um geeignetes Personal eine Herausforderung, sondern auch, dass sich die Einkaufsabteilung innerhalb eines Unternehmens für potenzielle Kandidaten attraktiv aufstellt. Ein BWL-Absolvent beispielsweise kann in vielen Betrieben auch in anderen Abteilungen gebraucht werden.

Über welche Kanäle lassen sich denn heutzutage am besten neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen rekrutieren?

In den größten deutschen Stellenbörsen sind derzeit mehrere Tausend Stellen unbesetzt. Um dort mit einer Ausschreibung nicht unterzugehen, sollten auch andere Kanäle wie Fachmessen oder soziale Netzwerke genutzt werden. Das Recruiting verlagert sich zudem zeitlich immer weiter nach vorne, schon in den Schulen werden Talente gesucht. Und nicht zuletzt ist standortbezogenes Employer Branding ganz entscheidend: Ein Unternehmen sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die eigene Marke zu stärken und sich gegenüber potenziellen Bewerbern als passender und attraktiver Arbeitgeber darzustellen.

Was sollte in einer Stellenanzeige für Einkäufer hervorgehoben werden?

Natürlich schadet es nicht, gute Verdienstmöglichkeiten anzupreisen, sofern das dann auch der Realität entspricht. Doch Geld ist meist gar nicht der entscheidende Faktor, immer wichtiger wird hingegen die Unternehmenskultur. Wer es schafft, sein Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit, Purpose und Diversity gut aufzustellen und das dann auch überzeugend kommuniziert, kann einen Vorteil erlangen. Das beschränkt sich nicht nur auf klassische Stellenanzeigen, sondern kann durch Mitarbeiter als Markenbotschafter auf anderen Kanälen noch viel besser bekannt gemacht werden. Und natürlich sind auch flexible Arbeitszeiten ein gutes Argument.

 


Was sind denn die wichtigsten Faktoren in der Kommunikation von Unternehmen mit potenziellen neuen Mitarbeitern?

Auf der abstrakten Ebene geht es darum, die Vision des Unternehmens aufzuzeigen und dass die Firma als Gemeinschaft bereit ist, den neuen Mitarbeiter oder die neue Mitarbeiterin aufzunehmen und in das Unternehmen zu integrieren. Nur einen existenzsichernden Job anzubieten, reicht heutzutage nicht mehr. Und auf der konkreten Ebene zeigt sich in der Kommunikation natürlich auch die Wertschätzung: Wer sich beispielsweise tagelang Zeit lässt, um eine Anfrage zu beantworten, gibt dem Bewerber oder der Bewerberin nicht das Gefühl von Zuwendung.

Wie haben sich die fachlichen Anforderungen an Einkäufer in den letzten zehn Jahren verändert?

Ich erlebe in der Praxis eine viel zu langsame Anpassung an die heutigen Anforderungen im Einkauf, die von der Digitalisierung, von systemischem und prozessorientiertem Denken und Nachhaltigkeitsaspekten geprägt sind. Bis vor kurzem war es noch selbstverständlich, dass Produkte, die bestellt wurden, auch verfügbar waren. Das hat sich durch Corona und den Ukraine-Krieg radikal geändert. Plötzlich ist es essenziell, Lieferketten von Anfang bis Ende nachvollziehen und die Anfälligkeiten und Risiken richtig einschätzen zu können. Und wir stehen gerade erst am Anfang dieser Komplexität.

Wird die Weiterbildung der Mitarbeiter in Zeiten des Fachkräftemangels noch wichtiger?

Ja. Die Mitarbeiterbindung wird immer relevanter, und da ist die Weiterbildung ein wesentlicher Faktor. Und natürlich ist es auch aus strategischen Gründen wichtig, die Mitarbeitenden immer wieder auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen. Ganz wichtig: Wenn Arbeitsprozesse verändert werden, sollte das Personal voll einbezogen werden, damit es den Vorteil auch wahrnimmt und sich nicht dagegen wehrt.

Können Unternehmen im Einkauf denn auch auf fachfremde Absolventen zurückgreifen, die sich dennoch für diese Tätigkeiten eignen?

Die formale Ausbildung allein ist nur ein Teil der Eignung, die sich in vielen Fällen auch gar nicht auf dem aktuellen Stand befindet. Nachhaltigkeit und Lieferkettenresilienz werden beispielsweise kaum gelehrt. Unternehmen, die in ihrem Arbeitsprozess ein Einstiegslevel vorsehen, aus dem heraus sich Mitarbeiter entwickeln können, haben eine wesentlich größere Auswahl an potenziellen Kandidaten. Es werden künftig auch nicht mehr die Art von Einkäufern gefragt sein, die sich durch knallhartes Verhandlungsgeschick und eine „Siegermentalität“ auszeichnen. Vielmehr sind Kräfte gefragt, die dauerhafte Entwicklungspartnerschaften aufbauen können. Gerade in Krisenzeiten zahlt sich das „Füreinander“ im Gegensatz zum „Gegeneinander“ aus. Weg vom Ego, hin zum Team.

 

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